Ist mit unserem Recht noch alles in Ordnung?

Sieben bittere Wahrheiten über unsere Justiz

Die Justitia stöhnt und ächzt, steht teilweise kurz vor dem Kollaps. Es fehlt an Richtern, Staatsanwälten und zeitgemäßer Ausstattung

von: MAXIMILIAN KIEWEL veröffentlicht am 19.08.2017 - 23:35 Uhr

In den muffigen Büros des Berliner Sozialgerichts reichten die Regale für die Akten früher bis zur Schulter. Dann kamen immer mehr Fälle. Jetzt gehen die Regale bis zur Decke und reichen trotzdem nicht.

Alle 18 Minuten verklagt ein Berliner sein Jobcenter. Täglich werden in der Poststelle des Sozialgerichts rund 2000 Schriftstücke gestempelt. 40 000 unbearbeitete Fälle stapeln sich. Das Gericht müsste ein Jahr lang schließen, um die Verfahren abzuarbeiten.

Justitia stöhnt und ächzt, steht teilweise kurz vor dem Kollaps. Es fehlt an Richtern, Staatsanwälten und zeitgemäßer Ausstattung.

40 bis 45 solcher Fälle gibt es jedes Jahr, in denen ein dringend Tatverdächtiger aus der U-Haft kommt, weil Verfahren zu lange dauern. Ausnahmen, klar, aber sie erschüttern das Vertrauen in den Rechtsstaat.

„Es knirscht in der deutschen Strafjustiz an allen Ecken und Enden“, so Jens Gnisa, Vorsitzender des Deutschen Richterbundes (DRB) zu BILD am SONNTAG. „Der Bürger spürt das und zweifelt zunehmend an der Sicherheit im Land.“

Sieben bittere Wahrheiten über unsere Justiz.

1. Die Gerichte sind unterbesetzt

In Deutschland gibt es rund 25 000 Richter und Staatsanwälte, 2000 zusätzliche Stellen werden laut DRB dringend benötigt. Und: Bis 2030 scheiden bundesweit rund 40 Prozent aus Altersgründen aus, insgesamt etwa 10 000 Richter und Staatsanwälte.

Holger Pröbstel, Richter am Erfurter Landgericht und Vorsitzender des Thüringer Richterbunds: "Hier wird auf Kante genäht. Wenn ein Kollege länger ausfällt, wissen wir nicht, wie wir das ausgleichen können."

"Der Mangel von Richtern und Staatsanwälten kann zu einer Gefahr für die innere Sicherheit werden"

Heiko Maas (SPD)

"Wenn wir die Menschen im Alltag wirksam vor Kriminalität schützen wollen, brauchen wir dringend mehr Richter und Staatsanwälte für zügige Verfahren", sagt Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) zu BILD am SONNTAG.

„Der Mangel von Richtern und Staatsanwälten in den Ländern kann zu einer Gefahr für die innere Sicherheit werden. So weit darf es nicht kommen.“

Foto: dpa
2. Die Richter sind überfordert

Jens Gnisa rechnet gegenüber BILD am SONNTAG vor: Ein Richter für Zivilsachen am Amtsgericht hat pro Jahr etwa 585 Fälle zu bearbeiten (Landgericht: 180 Fälle), die im Schnitt 4,8 Monate dauern (Landgericht: im Schnitt acht Monate). Ein Strafrichter muss circa 360 Fälle betreuen, Durchschnittsdauer 4 Monate.

Gnisa: „Früher hat man um 9 Uhr morgens mit einer Verhandlung wegen Mord begonnen, um 14 Uhr fiel das rechtskräftige Urteil. So etwas gibt es heute kaum noch. Die Verfahren sind komplexer und oft auch internationaler geworden. Es sind neuartige Prozesse hinzugekommen, etwa Verfahren über Kriegsverbrechen im Kongo, obwohl es dort nicht um deutsche Staatsbürger geht. Und es gibt, auch wenn es die Ausnahme ist, Konfliktverteidiger, die das Verfahren sabotieren wollen. In Koblenz war gerade ein Prozess, da haben die Verteidiger 1000 Anträge gestellt.“

Der Trend sei klar: Ein Verfahren, für das man vor zehn Jahren noch 3,2 Sitzungstage benötigt hätte, braucht heute 4,3. Dabei besagt eine alte englische Rechtsweisheit: „Justice delayed is justice denied“ (Verzögertes Recht ist verweigertes Recht).

Jurist Joachim Wagner, der für sein aktuelles Buch „Ende der Wahrheitssuche“ (C.H. Beck) 190 Richter und Staatsanwälte befragt hat, zu BILD am Sonntag: „Es gibt Gerichte, da braucht es dringend zusätzliche Richter und Staatsanwälte. Aber man muss auch sehen, dass sich viele Richter wegen der Privilegien für diesen Beruf entschieden haben. Und dazu gehört, dass die allermeisten zwischen 40 und 42 Stunden pro Woche arbeiten. Alles, was über 45 Stunden geht, empfinden etliche Staatsanwälte und Richter als Überlastung oder Überforderung.“

Der Experte weiter: „Umfragen zeigen klar, dass die Bevölkerung das Vertrauen in die Justiz verliert. Seit 2014 gibt es je nach Umfrage einen Verlust zwischen vier und acht Prozentpunkten. Größter Kritikpunkt an der Justiz: Die Bürger halten die Verfahren für zu lang. Die Richter und Staatsanwälte, mit denen ich gesprochen habe, erkennen das Problem, haben deswegen teilweise auch ein schlechtes Gewissen.“

3. Immer mehr Verfahren werden eingestellt

Staatsanwaltschaften stellen Verfahren ein, wenn zum Beispiel der Täter nicht ermittelt werden kann. Oder wegen sogenannter Geringfügigkeit (das kann Fahrraddiebstahl betreffen, Betrug, aber auch Körperverletzung). Oder es wird auf Privatklage verwiesen.

Gnisa: „Mittlerweile stellen Staatsanwaltschaften aus solchen Gründen Verfahren häufiger ein, als sie Anklagen oder Strafbefehle formulieren. Dieser Trend ist problematisch. So bekommen Opfer einer Straftat das Gefühl, dass der Staat sie nicht ernst nimmt, das Vertrauen in den Rechtsstaat geht verloren.“

Wagner ergänzt: "Ich weiß von einem Einbruch, Gesamtschaden 4000 Euro. Und der Richter hat das Verfahren eingestellt, Begründung: Wegen der geringen Schuld gäbe es kein öffentliches Interesse an dem Fall."

4. Umschulungen sind schwierig

Ein Richter am Sozialgericht kann nicht einfach zum Verwaltungsrichter gemacht werden. Das geht nur auf freiwilliger Basis. Und bis sich der Richter ins neue Fachgebiet eingearbeitet hat, kann es drei bis fünf Monate dauern.

Und: Erfolgreiche Strafverteidiger mit eigener Kanzlei und gutem Ruf haben wenig Interesse als Staatsanwalt in den Staatsdienst zu wechseln.

5. Wir setzen falsche Prioritäten

Laut Richter Gnisa lähmen Bußgeldverfahren wegen Tempoverstößen den Justizapparat. „Wer geblitzt wird, hat oft das Gefühl, dass da nur die entsprechende Gemeinde abkassieren will. Also wird geklagt, und zwar in sehr vielen Fällen. Das bindet Personal bei der Polizei und später müssen die Richter diese Klagen abarbeiten, auch wenn es auf Kosten anderer Strafsachen geht.“

6. Mehr Flüchtlinge gleich mehr Arbeit

Laut BKA-Bericht „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“ (liegt BILD am SONNTAG vor) begingen Migranten im vergangenen Jahr 76 500 Diebstahldelikte, 54 600 Körperverletzungen, 3600 Fälle gegen die sexuelle Selbstbestimmung und 432 Fälle von Mord und Totschlag (einschließlich versuchter Totschlag).

„Es sind zum Beispiel aus Nordafrika Bevölkerungsschichten zu uns gekommen, die krimineller sind als der allgemeine Bevölkerungsschnitt“, sagt Gnisa.

Ein noch größeres Problem: die Klagen gegen Asylentscheide. Wird ein Asylantrag abgelehnt, kann man Rechtsmittel einlegen, derzeit sind so rund 250 000 Gerichtsverfahren anhängig.

Gnisa: „Wir haben in Deutschland rund 230 000 ausreisepflichtige Ausländer. Und wir schaffen es nicht, dass diese Menschen auch das Land verlassen. Das ist ein großes Problem.“

7. Die Politik kümmert sich nicht

Oliver Malchow, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei: „Die innere Sicherheit in Deutschland kann nur gewährleistet werden, wenn die Kette Polizei – Staatsanwaltschaft – Gericht funktioniert. Tut sie aber nicht.“

Mehr Polizei, das findet im Wahlkampf fast jede Partei richtig. Mehr Stellen für Richter und Staatsanwälte taucht in vielen Wahlprogrammen aber gar nicht auf. Oder nur als Worthülsen.

Konkrete Ideen, Finanzierungskonzepte – Fehlanzeige.

Der Artikel stammt aus Bild.de